Page 6 - unsere brücke / Juni bis Dezember 2022
P. 6

 Univ.-Prof.
Dr. Christoph Jacobs Pastoralpsychologie
und Pastorale Soziologie Theologische Fakultät Paderborn
„Mit brennendem Interesse für den Alltag der Menschen“: Priesterliche Lebenskultur aus Leidenschaft für Gemein­ schaft und Dienstleistung
Die priesterliche Identität in der westlichen Welt befindet sich gegen- wärtig in einem dynamischen Wandel ihrer konkreten kulturellen und kirchlichen Gestalt. Wer Priester ist oder sich mit dem Gedanken trägt, vielleicht Priester zu werden, für den kann die Transformation des Priesterseins ein Grund für Erschrecken oder im Gegenteil ein Grund für eine neue Faszination sein.
Erschrecken kann man aus vielen Gründen: dass die Priester so wenige werden, dass die Priester ihren angestammten Platz in der Kultur verlieren, dass die Priester so viel Vertrauen verspielt haben, dass die Priester ihre Gestaltungsmacht verlieren, dass die Priester in ihrer zölibatären Lebenskultur so angefragt sind, dass die Priester nicht wissen, wie sie die Arbeit bewältigen sollen, usw.
Mich bewegt genau an den gleichen Punkten die umgekehrte Pers- pektive: Wenn so viel verspielt ist, gibt es automatisch die Chance
für einen neuen Anfang. Der Sturz auf den Boden der Tatsachen vermag zum Grund zu werden für eine neue Faszination an der Kraft des Priesterseins. Denn Priester nehmen ja nicht Maßstab an zeitbe- dingten menschlichen Konstrukten, sondern sie orientieren sich an Jesus Christus selbst, von dem sie sich in die engere Nachfolge gerufen wissen.
Der bekannte Theologe und Begleiter Christoph Theobald SJ sieht daher in der Unterbrechung des Gewohnten die Chance für ein neues und echtes Berufungsgeschehen. Gerade angesichts der schwierigen Situation der Kirche in einer säkularen Gegenwart gilt es, von dem zu sprechen, was wirklich zukunftsträchtig ist: Das neue Sich-Einlassen auf den Ruf Gottes in Jesus Christus.1
Berufung ist kein Besitz, sondern ein dynamischer Prozess. Sie wächst immer neu aus der Kraft der Aufmerksamkeit für die eigene persön- liche Gottesbeziehung und den eigenen Auftrag in der Welt von heute.
Die Krise priesterlicher Identität und die Faszination der Existenz Jesu im Dienste Gottes und der Menschen können zur Schlüsselsituation werden, in der mir aufgeht: Ich habe nur ein einziges Leben. Es ist
mir gegeben und erneut zur Wahl gestellt. Wenn ich jetzt die Chance ergreife, ergreife ich auch die Chance, dass mein Leben sein Ver- sprechen mit Hilfe der Kraft Gottes halten kann!
Wenn ich als Priester gefragt werde, wo ich persönlich die Chance für eine tragfähige Vision priesterlicher Existenz sehe, erscheint mir der Verweis auf Alfred Delp angebracht. Mit einem realistischen Blick auf die so häufig irritierende Menschenvergessenheit der Kirche und mit einem visionären Blick für das, was die Menschen von Gott und
4





















































































   4   5   6   7   8