Page 13 - Unsere Brücke 06 2019

Hier versuche ich das zu leben, was ich schon als Kind lernte: Es braucht heilige Zeiten, Orte und Rituale. In der Schwesterngemeinschaft beginnen wir den Tag mit der Laudes und schließen ihn im Abendgebet ab. Dabei hören wir oft zeitgleich den Muezzin laut die Muslime zum Gebet rufen. Wir feiern die christlichen Feste mit allen im Haus. Unser mus- limischer Hausmeister ist jedes Jahr ein würdiger Nikolaus für die Bewohnerinnen der Pfle- gestation. Ebenso erleben wir mit den muslimischen Mitarbeiter/innen die besondere Zeit des Ramadans. Mich beeindruckt es, wie muslimische Gläubige mehrmals täglich mitten in der Arbeit innehalten, um zu beten.
Und: Die Heiligkeit trägt sich im Alltag durch. Im Pflegeheim bin ich täglich in unmit- telbarem Kontakt mit Alten und Behinderten. Beispielsweise lebt im Haus eine Frau mit Schizophrenie, die zu jeder vollen Stunde in mein Büro kommt, um die Kuckucksuhr zu sehen bzw. zu hören. Natürlich ist das oft genug störend für mich. Doch wenn ich ihr ins Gesicht sehe, weiß ich: Dieses Ritual gibt ihr Struktur und Halt. Ich kann nicht am Sonntag von Nächstenliebe reden und am Montag die Tür zu machen.
In Emmaus versuche ich, eine Lernerfahrung meiner Kindheit ernst zu nehmen: Heili- gendes und heilendes Leben bedeutet, Verantwortung für meine Umgebung zu übernehmen. In Emmaus setzen wir die „Sorge für das gemeinsame Haus“ um, indem wir jungen Men- schen in einer Pflegefakultät Bildung ermöglichen. Mit einem interreligiösen Leitungsteam und Lehrerkollegium analysierten wir die Situation der Menschen hier: die Arbeitslosigkeit ist hoch, Frauen werden gesellschaftlich benachteiligt, die medizinische Versorgung in Palästina ist mangelhaft. Als Antwort bieten wir jungen Menschen in der Pflegefakultät per- sönliche Entwicklung und berufliche Perspektiven an. Wenn ich bei der jährlichen Gradua- tionsfeier in die Gesichter unser Absolvent/innen blicke, bin ich erfüllt und danke Gott für den Segen, den unser Leben hier bewirken kann.
11