Page 14 - unsere brücke / Juni bis Dezember 2020
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Kirchenmusik und Bibel
  Univ.-Prof. Dr. theol. Christoph Niemand
Manchmal werde ich gefragt, wie das bei mir zusammengeht – Bibel- wissenschaft und Domchor, Exegese und Kantorendienst, Studien- administration und gregorianische Psalmodie?
Seit meiner Kindheit bin ich Chorsänger. Das übliche Repertoire der österreichischen Kirchenmusikpraxis habe ich im Kremsmünsterer Stiftschor gelernt. Ich war damals, um die Mitte der 1970er-Jahre auch mit dabei, als das liturgische Format „Jugendvesper“ entwickelt wurde. Ich habe (meistens) in der Schola gesungen und (manchmal) in der Gitarristen-Gruppe mitgespielt. Während des Philosophie- und Theolo- giestudiums in Rom habe ich viel Gregorianik gesungen und eine Scholaren- und Kantorenausbildung gemacht. Zurück in Österreich zu- erst wieder Stiftschor. Dazu ein kleines feines Vocalensemble, in dem ich auch meine Frau kennen lernte. (So etwas ist übrigens ziemlich häu- fig in Chören!) Seit wir in Linz leben, also seit jetzt ca. 25 Jahren, bin ich in der Dommusik mit ihren verschiedenen Formationen. So habe ich den Mariendom kennen und lieben gelernt: Seine Akustik ist mir wie mein eigener, leiblich vertrauter Klangraum geworden. In die Dompfarre bin ich vermittelt über die Dommusik „eingestiegen“. Nach ein paar Jahren habe ich, wenn kein Chordienst war, begonnen, Lektoren- oder Kanto- rendienst zu übernehmen.
Die coronabedingte Abstinenz setzt mir zu. Aber der Dom und ich, wir kennen einander noch: Vor ein paar Tagen bin ich auf dem Heimweg von der Uni durchgegangen. Ich habe mich ins Chorgestühl gesetzt und im stillen, leeren Raum leise die Non gesungen. Und da war es wieder: Als ich das „a“ von der Stimmgabel abnahm und Hymnus und Psalmodie- modell einsummte, spürte ich sofort die Resonanz des riesigen Raumes. Es ist keine Übertreibung: Schon das Summen kommt zurück! Ein Gänsehaut-Moment.
Apropos Stundengebet. Singen oder - still oder (halb)laut - lesen? Alle drei Formen haben etwas. Eine still gelesene Hore bedeutet für mich meist den Versuch großer Konzentration: Da will ich im Gebet möglichst viel „mitbekommen“: Die von den Psalmen, Antiphonen, Hymnen und Schriftlesungen evozierten Gedanken und Emotionen, Färbungen und Assoziationen möchte ich in Kopf und Herz realisieren. (Übrigens: Manchmal muss ich im Anschluss an eine so gelesene Hore gleich im Urtext etwas nachschauen oder eine bislang unbewusste intertextuelle Bezugnahme zwischen Altem und Neuen Testament verfolgen. Heutzu- tage, wo man am Handy in Sekundenschnelle zwischen Stundengebets- App, Biblia Hebraica, Septuaginta, Vulgata und Einheitsübersetzung(en) hin-und-her-wischen kann, bleibe ich nach einer gelesenen Hore nicht selten noch etwas hängen. Und für einige meiner Forschungsarbeiten ist die erste Idee so entstanden.)
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