Page 4 - Brücke 06 2017
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Dr. Manfred Scheuer Bischof von Linz
Berufung - ein vielschichtiger Begriff: die Kontexte sind Recht, Kunst und Kultur, Wissenschaft, Erziehung, Sozialarbeit, aber auch Design und Karriereplanung; im theologischen Bereich die Berufung der Propheten, die Erwählung des Volkes Israel, die irdische und himm- lische Berufung der christlichen Gemeinde.
Hörer des Wortes
„Der Mensch stellt sich ... nicht etwa selbst her, so dass er sein Dasein sich selbst verdankte, sondern er verdankt sich anderen; er beginnt damit, dass er sich annimmt. So aber bildet statt Selbsther- stellung die Annahme seiner selbst das Gesetz, nach dem er antritt. Annahme indessen ist der Grundvollzug von Dank, und Annahme wie Dank sind die Grundwirklichkeiten von Antwort.“ (J Splett, Zur Antwort berufen. Not und Chancen christlichen Zeugnisses heute, Frankfurt a.M. 1984, 26, mit Bezug auf Karl Marx und R. Guardini.)
Berufung ist freie, schöpferische, unableitbare Tat Gottes. Sie kann nicht vom Menschen her errechnet, nicht als Erfüllung oder gar als Echo der bloß menschlichen Sehnsüchte gedeutet werden, sondern ist immer auch Exodus aus den Feldern des Selbstverständlichen. Berufung ist daher nie schon einfach nur dem Selbstvollzug des Menschen gegeben. Sie ist Wahl der Freiheit Gottes. Nach Karl Rah- ner habe ich nicht nur einen Ruf oder eine Sendung durch Gott, ich bin ein Ruf Gottes, ich bin eine Sendung Gottes in der Welt. Insofern ruft Gott ins Ureigene; Berufung konstituiert menschliche Freiheit und Identität.
Zwischen Psychologie und Theologie
Übernatürliche Berufung braucht als Gegenprobe die Selbstausle- gung der Freiheit und eine ihr angemessene Moral. Deshalb ist bei jedem Prozess von personaler Berufung darauf zu achten, wie frei und disponiert eine Person ist, auf Gottes Ruf zu antworten, bezie- hungsweise welche Motivationen, welche Faktoren oder Kräfte dabei im Spiel sind. Solche Kräfte lassen sich in zwei Grundkategorien einteilen: Motivationsfaktoren, die zur Selbsttranszendenz führen, werden unter den allgemeinen Begriff der Werte gefasst, solche,
die selbstzentriert sind, unter den Begriff der Bedürfnisse. In dieser Dialektik steht auch geistliche Berufung: Es sind Werte, Ziele und Leitideen, aber auch die tatsächlichen Prägungen, Eigenschaften und Charakterzüge einer Person im Spiel. Das freie, indifferente und zur Antwort bereite Stehen vor Gott steht immer in Spannung zum Real- Ich, zu den selbstzentrierten Bedürfnissen.
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Der Mensch ist Ruf Gottes


































































































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