Page 4 - Unsere Brücke / Dezember 2022 bis Juni 2023
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 Univ.-Prof. Dr. Christian Spieß Professor für Christ- liche Sozialwissen- schaften und Vor- stand des Instituts für Christliche Sozialwis- senschaften Johannes Schasching SJ
Der karitative Dienst der Kirche als Zeichen der Gegenwart Gottes
„Kirche, wo bist du?“ – Für die Sichtbarkeit der Kirche in einer Gesellschaft sind immer mehrere Faktoren entscheidend. Dazu ge- hört auf der einen Seite die Präsenz der Kirche und kirchlicher Orga- nisationen, auf der anderen Seite aber auch die Resonanz, die diese Präsenz in der Gesellschaft hervorrufen kann. Wenn wir, sicher nicht zu Unrecht, eine schwindende Sichtbarkeit der Kirche in unserer Gesellschaft diagnostizieren, gehört zur Analyse dieser Situation also nicht nur die Frage, wie sich die Kirche darstellt und welche Präsenz sie von sich aus entfalten kann, sondern auch die Frage der Offenheit der Gesellschaft und der Menschen für die Themen und Botschaften, Sinn- und Praxisangebote der Kirche. Haben wir es gegenwärtig eher mit einem Sprachverlust auf Seiten der Kirche oder mit einem Reso- nanzverlust auf Seiten der Gesellschaft zu tun? Die Grundanliegen der Religion – etwa der Umgang mit der Kontingenz und Begrenzt- heit des menschlichen Lebens, mit Freude und Hoffnung, Trauer
und Angst, mit Schuld und Vergebung, die Ideen der Gnade und
der Erlösung, der Demut und der Barmherzigkeit – dürften Grund- anliegen der menschlichen Existenzform sein, also Anliegen, die fast alle Menschen teilen. Aber kann es dann sein, dass das Werk und die Verkündigung der Kirche an Bedeutung verlieren?
Für den diakonischen Auftrag der Kirche, also für den sorgenden und karitativen Dienst an den Menschen, vor allem an den Armen und Bedrängten aller Art, lassen sich diese Fragen vielleicht ein- facher beantworten als für Fragen der Verkündigung und der litur- gischen Praxis. Der soziale Auftrag der Kirche gehört zum Kern der jüdisch-christlichen Tradition: Deren Glaube verwirklicht sich in der Verkündigung und in der gottesdienstlichen Feier des Glau- bens, aber immer auch in der Zuwendung zum und zur Nächsten, in der Unterstützung der Bedürftigen, in der Anwaltschaft für die Benachteiligten, in der Sorge für Bedrängte. Sozial-karitatives Han- deln kommt nicht als beliebiges Extra zum Glauben hinzu, sondern ist notwendig Teil und Ausdruck des Glaubens. Religiöse Praxis erschöpft sich niemals in kirchlicher Selbstbezogenheit, sondern wendet sich den Menschen zu; die Kirche findet Christus nicht nur in der Heiligen Schrift und in den eigenen Glaubenssätzen, sondern in den Menschen, denen sie ins Gesicht schaut, deren Anliegen und Bedürfnisse sie wahrnimmt.
Grundgelegt ist dies beispielsweise in der biblischen „Option für die Armen“, und realisiert wurde dies historisch beispielsweise in der Armenfürsorge. Besondere Bedeutung gewinnt das – früh auf ein professionelles und sachgerechtes Niveau gebrachte – soziale
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