Page 20 - unsere brücke
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 Univ.-Prof. Mag. Dr. Roman A. Siebenrock (Dies academicus, Innsbruck, 27. 4. 2010)
Bildung und Leben in Heiligkeit: Priestersein nach John Henry Newman.
„Die Religion scheint immer am Sterben, Spaltungen vorherrschend, das Licht der Wahrheit fahl, seine Anhänger verstreut. Die Sache Christi ist immer im Todeskampf. So, als sei es nur eine Frage der Zeit, ob sie heute oder morgen endgültig scheitert. ... Der Tag des Gerichts ist buchstäblich immer im Anbrechen; und es ist unsere Pflicht, immer danach Ausschau zu halten, ohne Enttäuschung dar- über, daß wir schon so oft gesagt haben, jetzt ist der Augenblick‘ ... Soviel Trost gewinnen wir in der Zwischenzeit aus dem, was bisher gewesen ist, nicht zu verzweifeln, nicht zu erschrecken, uns nicht zu ängstigen über die Schwierigkeiten, die uns umgeben; es gab sie im- mer, es wird sie immer geben, sie sind unser Anteil.“ (Via Media I, 354f [Ende])
Angesichts der Untergangshymnen auf das Christentum in Europa ist es gut, an jenen anglikanischen Priester, Oratorianer und Kardinal zu erinnern, der wie kaum ein anderer gelebt und reflektiert hat, wie Glauben unter den Bedingungen der Moderne verwirklicht wird. Gerade in der Ausbildung der Priester heute wäre auf solche Priester und Laien zu verweisen, die Intellektualität, sozialen Einsatz und neue Formen von priesterlicher und christlicher Existenz vorlebten. John Henry Newman (1801-1890) ist einer jener Persönlichkeiten.
Im Nährboden seiner Urerfahrung, dass „mein Schöpfer und Ich“ die einzigen gewissen Wesen seien, entwickelt er ein christliches Leben im Umkreis der evangelikalen Bewegung, das stets vom Bewusstsein geprägt ist, eine Sendung von Gott verwirklichen zu sollen und daher dem Ruf Gottes im eigenen Leben Priorität einräumt. Seit er sich 1822 zum Diakon weihen lässt, weiß er sich mit seiner ganzen Existenz für „Seelen verantwortlich“. Als akademischer Lehrer bleibt er stets Seel- sorger und erneuert mit Freunden in der „Oxfordbewegung“ die Pas- toral aus der Überlieferung der alten Kirche und den katholischen Traditionen der anglikanischen Kirche. Seine pastorale Verantwor- tung prägt auch seine Arbeit als akademischer Lehrer an der Traditi- onsuniversität Englands: Oxford. Hier prägt sich sein christliches Ideal: Heiligkeit am Maßstab der alten Kirche, Kultur des Gentleman und Bildung als unverzichtbares Kennzeichen von Glaubenden in einem wissenschaftlichen Zeitalter. In allem aber geht es immer zu- erst um die Begegnung mit Menschen: „cor ad cor loquitur“. Dieses Motto wählte er für sein Kardinalswappen und verband diese Innig- keit mit Diskretion und jener notwendigen Freiheit, die allein der Ort sein kann, dass Gott mit seinem Geschöpf handeln kann.
In diesem Zusammenhang entwickelt er seine Gewissenlehre, die nicht nur moralischer Sinn und den Sinn für Pflicht umfasst, sondern im Innersten des Menschen ein Ort der Gottes- und Christusbegeg- nung umschreibt. Jede menschliche Person ist von dieser Unmittel- barkeit zu Gott getragen, die von nichts und niemandem verletzt oder
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