Page 4 - unsere brücke / Juni bis Dezember 2020
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Mag. Johann Karner Spiritual
Das Motto dieser Brücke-Ausgabe – „Nehmt Gottes Melodie in euch auf!“ (eine Aufforderung, die Bischof Ignatius von Antiochien vor seiner Hinrichtung im Jahr 117 in einem Abschiedsbrief an seine Gemeinden gerichtet hat) – beinhaltet eine sehr spannende Aussage: Gott äußert sich. ER ist nicht stumm. Oft sagen wir, biblisch gut be- gründet: Gott spricht zu uns. Ignatius spricht jedoch nicht vom Wort Gottes, sondern von seiner „Melodie“. Was könnte das bedeuten?
• Worte sind in unserem menschlichen Erfahrungshorizont oft sehr kurzlebig. Sie erreichen selten mehr als unseren Verstand. Melodien hingegen klingen gerne nach. Sie sprechen unsere Emotionen, unsere Gefühle, unser Herz an. Mehr noch als Worte vermögen Melodien uns innerlich aufzurichten, Freude zu wecken, uns zu beleben.
• Melodien können Botschaften übermitteln, die mit Worten nicht beschreibbar sind. Was Nikolaus Harnoncourt über Kunst allge- mein sagt und als Dirigent gewiss auch auf Musik bezieht, trifft wohl auf Gottes Melodie ganz besonders zu: „sie ist eine Sprache des Unsagbaren – die aber manchen letzten Wahrheiten wohl eher nahekommt als die Sprache der Worte ...“1
• Wenn Gott sich nicht mit trockenen Worten an uns wendet, sondern melodisch, so kündet dies von seiner Lebendigkeit, von seiner Verspieltheit, von seiner Unberechenbarkeit, von seiner Freude ... Gottes Sprache ist vielfältig, überraschend, kunstvoll, ... Gott will mit seiner Botschaft nicht nur unser Hirn erreichen, sondern vor allem auch unser Herz. Er will uns als ganze, als sinn- liche Wesen „ansprechen“.
„Nehmt Gottes Melodie in euch auf!“ ist eine herzliche Einladung, nicht nur an Gott zu denken bzw. über IHN nachzudenken, sondern sich IHM ganzheitlich zu öffnen und sich mit allen Sinnen auf wirk- liche Begegnung mit IHM einzulassen. „Wer lernt, loszulassen und sich zu öffnen, wird offener und empfindsamer für die Anwesenheit Gottes in sich selber. Er erfährt, dass Gott es ist, der ... den Einzelnen mit seiner lebendigen Wärme durchströmt, der das Herz schlagen lässt, den Atem bewegt und die Stirn kühlt. Diese liebevolle An- wesenheit in uns verleiht dem Leben Verlässlichkeit, Sicherheit,
Sinn und Freude.“2
Wer in diesem Sinne empfänglich wird für „Gottes Melodie“, d.h. letztlich für die Begegnung mit IHM selber, in dem wird sie
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„Nehmt Gottes Melodie in euch auf!“
 
























































































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