Page 30 - unsere brücke / Juni bis Dezember 2020
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Gesang ist auf einer Distanz von bis zu 500 Metern zu hören. Dieser unscheinbare winzige Vogel ist in seinem Gesang ein König. Manch- mal haben gerade die Unscheinbaren eine verborgene Schönheit. Mag Gott unscheinbar und unsichtbar verborgen sein, seine Botschaft klingt doch gewaltig und schön.
Bei all der stimmenfreudigen und gewaltstarken Akustik kommt
man leicht ins Staunen und wird vielleicht in himmlische Sphären entrückt. Seit alters her wurden Vögel dem himmlischen Bereich zu- gerechnet und man hat dann z.B. himmlische Wesen wie Engel mit Flügel dargestellt. Mit ihrem Gesang loben Vögel unbewusst Gott und bringen uns Gottes Geheimnis näher. Für sie selbst allerdings ist das Singen nicht immer mit Freude verbunden, sondern auch anstren- gend. Wissenschaftlich gesehen hat ja der Vogelgesang die Funktion, eine Partnerin anzulocken und das Revier abzustecken beziehungs- weise zu verteidigen.
Wie aber die Vögel sich Gehör verschaffen, ist einfach faszinierend. Oft suchen sie eine erhöhte Position, etwa auf der Spitze eines Haus- dachs. Oder sie steigen weit in den Himmel auf, wie die Lerche, um besser gehört zu werden. Sie kann übrigens an die 200 Strophen
in ihr melodisches Lied einbauen. Ähnlich ist es auch in unserem Leben, wenn wir uns wieder Gehör verschaffen wollen. Dazu haben wir ebenso einen anderen Standpunkt oder eine andere Perspektive einzunehmen. Wie das Aufsteigen und Singen brauchen auch wir ein Aufrichten aus dem Bisherigen und ein Herausgeführt-Werden in himmlische Bereiche hinein, um Gottes Melodie wieder erneut, viel- stimmig und farbenfroh zum Klingen zu bringen.
Ein einsam singender Vogel auf einem Dach andererseits, könnte uns einladen, unsere Einsamkeit oder Traurigkeit Gott zu klagen (vgl. Psalm 102,7). Und das permanente, stetige, auch nächtliche Singen erinnert uns daran, dass wir trotz allem nie die Hoffnung und den Glauben verlieren sollten. „Glaube ist der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“, so der indische Dichter Tagore.
Bei meinen meditativen Wanderungen weise ich gerne auf Esels- brücken hin, damit man sich ein bestimmtes Vogelgezwitscher besser merken kann. Zum Beispiel übersetzt der Volksmund den Balzgesang des Buchfinks: „Ich, ich, ich, ich, dein lieber Bräutigam.“ Oder die Goldammer: „Wie, wie, wie, hab´ ich dich lieb.“ Ist das nicht die Melodie Gottes?



























































































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