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Bruecke_06_2014

20 Den Gott erfahren, der verwandelt – Wallfahren und Gottesbegegnung Im Kinofilm „Lourdes“ der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner von 2009 wird eine an Multipler Sklerose leidende Frau in dem französischen Wallfahrtsort scheinbar von ihrer Krankheit geheilt. Sofort beginnen in ihrer Pilgergruppe die Streitigkeiten: „Warum ausgerechnet die?“ „Ich war doch viel häufiger in der Kirche!“ „Das ist ungerecht!“ „Ich leide doch schon viel länger an meiner Krankheit!“ Usw. Doch geht es beim Wallfahren oder Pilgern wirklich um die wunderbare Heilung des Körpers? Das Alte Testament deutet einen anderen Sinn des Unterwegsseins an (Gen 32,23-33): Die Begegnung mit dem Gott, der verwandelt. Jakob ist auf dem Weg zurück in seine Heimat. Jahrzehnte nachdem er seinem Zwillingsbruder Esau den Erstgeburtssegen geraubt hat, will er sich endlich mit diesem aussöhnen. Er erreicht den Fluss Jabbok. Tief eingeschnitten in das Gebirge östlich des Jordans markiert dieser Fluss eine Grenze, einen spürbaren Einschnitt: Am anderen Ufer beginnen die Weidegründe Esaus. Die Entscheidung steht bevor, hinter die es nachher kein Zurück mehr gibt. Überschreitet Jakob den Fluss, liefert er sich seinem Bruder aus und ist auf dessen Wohlwollen angewiesen. Da geschieht etwas Überraschendes. Als es dunkel geworden ist, ringt mit ihm „ein Mann” (Gen 32,25). Dessen Identität bleibt in der Schwebe, selbst als Jakob im Morgengrauen nach seinem Namen fragt. Dem Mann haftet etwas Unheimliches an. Biblisch gesehen trägt er die Züge eines Dämons. Doch tiefenpsychologisch betrachtet könnte er auch Jakobs Vater Isaak verkörpern, der Jakob gegenüber Esau stets zurücksetzte. Er könnte seine Mutter Rebekka sein, die Jakob bevorzugte und verhätschelte und ihn zum Betrug des Vaters anstiftete. Er könnte sein Bruder Esau sein, vor dessen Morddrohung Jakob einst geflüchtet war und mit dem er sich nun versöhnen will. Er könnte er, Jakob, selbst sein, der mit sich und seinem „Schatten” ringt – denn alle vorher genannten Personen gehören auf die eine oder andere Weise zum „Schatten” Jakobs, zu den verdrängten Aspekten seiner Identität. Klassisch hat man in der jüdischen und christlichen Spiritualität den Unbekannten als Gott verstanden – so schon innerbiblisch in Hos 12,4. Das Ringen Jakobs wäre dann ein „Kampf im Gebet” (Josef Scharbert), wobei der Gott Jakobs im Dunkel bleibt, sich nicht völlig preisgibt, nicht besiegt oder festgehalten werden kann. Doch müssen tiefenpsychologische und spirituelle Auslegung der Erzählung einander keineswegs ausschließen: Was psychologisch betrachtet ein innerseelischer Wandlungsprozess ist, kann zugleich theologisch als Michael Rosenberger Professor KTU


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